Medizinnobelpreis 1927: Julius Wagner-Jauregg

Medizinnobelpreis 1927: Julius Wagner-Jauregg
Medizinnobelpreis 1927: Julius Wagner-Jauregg
 
Der Österreicher erhielt den Nobelpreis für die Entdeckung der therapeutischen Bedeutung der Malariaimpfung bei der Behandlung von progressiver Paralyse.
 
 
Julius Wagner-Jauregg, * Wels (Österreich) 7. 3. 1857, ✝ Wien 27. 9. 1940; 1880 Promotion im Fach Psychiatrie, ab 1889 Leitung der Psychiatrischen Universitätsklinik in Graz, 1893 Berufung an die erste Psychiatrische Klinik der Universität Wien, 1902 Wechsel zur zweiten Psychiatrischen Klinik, Spezialgebiete: Behandlung des endemischen Kretinismus, Arbeit als Gerichtspsychiater, Fiebertherapie der Syphilis.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Der Wiener Psychiater Julius Wagner-Jauregg ist bis heute der einzige Psychiater, dem der Nobelpreis für Medizin und Physiologie verliehen wurde. Er hatte erfolgreich die so genannte »progressive Paralyse«, die Spätform der Syphilis, mit Fieber behandelt, das durch eine Malariainfektion hervorgerufen wurde.
 
 Die Psychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert
 
Im Zuge aufklärerischen Denkens wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts die psychisch Kranken als Patienten entdeckt. Die Frage der Ursache psychischer Leiden war jedoch noch gänzlich offen, sowohl körperliche, als auch seelische Gründe wurden für das »Irresein« verantwortlich gemacht. Entsprechend unspezifisch war die Therapie, die von der Durchführung suggestiver Gespräche bis hin zur Anwendung von Zwangsmaßnahmen wie kalten und heißen Bädern oder der Behandlung mit dem Drehstuhl reichte.
 
Um die Jahrhundertwende schickte sich die Psychiatrie an, »naturwissenschaftlich« zu werden und wurde als medizinische Spezialdisziplin anerkannt. Den psychischen Erkrankungen wurde eindeutig ein Organ zugewiesen: das zentrale und periphere Nervensystem. Es schien, als könne man die Ursache psychischer Leiden auffinden, wenn man nur den organischen Ursprung genügend genau untersuchte. Doch bald stellte sich eine große Enttäuschung bei den Psychiatern ein, denn die anatomischen Untersuchungen hatten nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Nur in wenigen Fällen — wie beispielsweise bei der Syphilis — fand man Veränderungen des Gehirns, die man der Erkrankung eindeutig zuweisen konnte.
 
 Wagner-Jauregg und sein Optimismus
 
Einer der Psychiater, die weiterhin einerseits an die organische Verursachung psychischer Leiden und andererseits an die Möglichkeit ihrer erfolgreichen Bekämpfung glaubte, war Wagner-Jauregg. In seiner Studienzeit und zu Beginn seiner akademischen Karriere wurde er stark vom experimentell-pathologischen Denken geprägt, das er im Institut Salomon Strickers in Wien aufsog.
 
Das naturwissenschaftliche, auf die organischen Veränderungen des Körpers bei Krankheiten zentrierte Denken ließ Wagner-Jauregg auch als Psychiater nicht los. Bald stieß er auf den Zusammenhang von Fieber beziehungsweise Infektionskrankheit und Geisteskrankheit. Die Erfahrungen der Forschung hiermit waren allerdings rein empirisch, die Heilungserfolge schwankten in ihrem Ausmaß und in der Dauer.
 
Wagner-Jauregg dachte über eine therapeutische Anwendung von Fieberkrankheiten nach. Diese durften den Patienten nicht schädigen, mussten kontrollierbar und künstlich auslösbar sein. Zwei Krankheiten, die in den Augen Wagner-Jaureggs diese Bedingungen erfüllten, waren die Malaria und das so genannte Erysipel, eine durch Bakterien, nämlich Streptokokken, ausgelöste Hautkrankheit. Im Winter 1888/89 infizierte er zunächst mehrere Patienten mit Streptokokken — ohne Erfolg. Doch trotz dieser Enttäuschung wollte Wagner-Jauregg weiterhin die Errungenschaften der modernen Bakteriologie für seine Arbeiten ausnutzen. In seiner Zeit als Klinikdirektor in Graz behandelte er 1890/91 einige Patienten mit dem von dem Bakteriologen Robert Koch gerade eben entwickelten Tuberkulin, einem Extrakt aus abgetöteten Tuberkelbazillen, das ursprünglich zur Heilung der Tuberkulose verwendet werden sollte. Wagner-Jauregg konnte es nun wirksam gegen Geisteskrankheiten einsetzen. Doch die Erfolge waren wie schon beim Erysipel unsicher, und schließlich unterbrach Wagner-Jauregg seine Experimente. Dennoch blieb er bei seinem Ansatz. 1891 schrieb er einen Beitrag »Ueber die körperlichen Grundlagen der acuten Psychosen« und weitete hier das Spektrum der organischen Ursache von psychiatrischen Krankheiten aus: Nicht nur das Gehirn, auch andere innere Organe, beispielsweise Teile des Verdauungssystems, könnten derartige Krankheiten auslösen. In Wien griff Wagner-Jauregg die Tuberkulintherapie wieder auf.
 
Es stellte sich bald heraus, dass vor allem Patienten mit Syphilis gut auf die Tuberkulinbehandlung ansprachen, vor allem solche im Endstadium der Erkrankung, das durch eine unbehandelt fortschreitende Zerstörung des Gehirns durch den Syphiliserreger gekennzeichnet ist (progressive Paralyse). Seit 1905 war auch der Erreger der Krankheit bekannt, sie konnte damit bakteriologisch definiert werden. Trotz partieller Erfolge konnte Wagner-Jauregg die Fachwelt nicht von seinen Theorien überzeugen. Schließlich kam er zu dem Entschluss, die so genannten Paralytiker mit einer richtigen Infektionskrankheit zu behandeln, die kontrollierbar und nicht gefährlich für die Patienten und die Umgebung war.
 
 Die Malariatherapie
 
Seine Wahl fiel auf die Malaria, eine Tropenkrankheit, die durch die Anophelesmücke übertragen wird. Damit griff er eine Idee auf, die er bereits 1887 hatte. Im Ersten Weltkrieg 1917 begann Wagner-Jauregg mit der Behandlung von Patienten. In letzter Konsequenz war er diesmal erfolgreich. Einige Todesfälle zwangen nur kurzeitig zum Abbruch der Behandlungen. Ab 1919 wurden in der Wiener Psychiatrischen Klinik kontinuierlich Patienten mit progressiver Paralyse einer Malariatherapie unterzogen. 1921 konnte Wagner-Jauregg über 200 behandelte Kranke berichten, von denen 50 wieder arbeitsfähig geworden waren. Die besten Aussichten hatten die Frühfälle. Chronisch Kranke hingegen hatten geringere Chancen auf Heilung. Wichtig war vor allem die Erkenntnis, dass künstlich überimpfte Malaria nicht weiter übertragen wurde und daher keine Ansteckungsgefahr in den Kliniken bestand. Ab 1920 wurde die Malariatherapie der progressiven Paralyse auch an anderen Kliniken eingeführt. Obschon 1924 für den Nobelpreis vorgeschlagen, war die Therapie umstritten, sodass Wagner-Jauregg der Preis erst 1927 zuerkannt wurde.
 
Heute ist von Wagner-Jauregg nicht mehr viel die Rede. Syphilis wird mit Antibiotika therapiert. Schon seit 1930 wurden die ethischen Probleme im Zusammenhang mit Wagner-Jaureggs Vorgehen diskutiert. Konnte man einem Patienten, der an einem schweren Leiden wie der progressiven Paralyse litt, eine weitere schwere Krankheit zumuten? Heute würde man auch die Frage nach dem Einverständnis und der Aufklärung der Patienten und ihrer Angehörigen stellen, ferner auch die Frage, ob es sich um »Menschenversuche« oder um »Heilversuche« handele. Wagner-Jaureggs Wirken wird daher nur durch die Einschätzung im historischen Umfeld verständlich. In einer Zeit, als die psychiatrischen Anstalten nicht zuletzt mit den damals zahlreichen Paralytikern überfüllt waren, war die Malariatherapie ein Lichtblick für alle, die sich um Innovationen im Fach der Psychiatrie bemühten. Wagner-Jaureggs Arbeit steht für die neuen Impulse, die das Fach vor allem seit den frühen 1920er-Jahren erhielt.
 
C.-R. Prüll

Universal-Lexikon. 2012.

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